jensblog
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Endlich die ersehnten Frühjahrssonnenstrahlen, draußen schwirren und jubilieren die Vögel und Insekten und auf den ersten zwei Seiten unserer heutigen Regionalzeitung hängen drei Umfragergebnisse fett wie Schmeißfliegen.
Tja, wenn es diese mit beängstigender Häufigkeit auftauchenden Erhebungen nicht gäbe, von wem und zu welchem Thema auch immer, alles ist aber irgendwie wissenschaftlich erwiesen, tatsächlich, die Zeitung wäre um etliches schlanker. Und für so manche Gazette wäre solche Frühjahrsdiät eine Wohltat.
Was mir zunehmend auf den Keks geht, ist der weitgehend kritiklose Abdruck dieser Marathonveranstaltung von Umfrageerkenntnissen. Hej Leute, diese ganzen Institute von rechts nach links und wie renommiert sie auch immer sein sollen, sind auch nur Arbeitgeber. Ihr Job ist es, möglichst kostengünstig aus einem kleinen Pups ´ne richtige Gewitterwolke zu machen. Das sind alles nur positive Denker, echte Frontkämpfer für das Wohl unserer Republik, die uns mit manchmal derart obskuren Ratschlägen den Morgen eröffnen, dass mir beim Frühstück schon übel wird.
Umfrage 1: Späterer Unterrichtsbeginn für Schüler
Ob es für die Kinder gesünder sei, den Schulbeginn im Sinne einer besseren Leistungsbereitschaft auf neun, besser noch auf 10 Uhr zu verlegen? Ja, sagen einige Professoren, die Kinder sind am späten Vormittag wesentlich leistungsbereiter (ist mir nach über 30 Jahren so noch gar nicht aufgefallen), insbesondere in der Pubertät entwickelt unser Nachwuchs den Nachteulen-Typus. Und dann sind sie überlastet. Ohje, ohje. Wenn ich mir unsere fünf Kinder hier anschaue, dann hing zu diesen Zeiten die Übermüdung mit einer endlosen Feierei in Verbindung mit dem einen oder anderen Glas zuviel oder auch manchmal mit ausgiebigem Aufenthalt vor der Glotze oder der aufregenden Kommunikation via Internet zusammen.
Die Erinnerung flackert auf. Und ich frage mich, wie ist es nur möglich gewesen, dass ich als 16jähriger während meiner Lehrzeit ein halbes Jahr lang um 4.30 Uhr aufstehe, damit ich per Straßenbahn einmal quer durch Hamburg ruckelnd, ab 6 Uhr in einem Auslieferungslager richtig arbeiten muss? Einen wesentlichen Grund habe ich jetzt gelernt. Die Professoren belehren mich, dass es mit dem Hormon Melatonin zusammenhängt, das die innere Uhr anzeigt. Und ich habe bislang geglaubt, auch die Erziehung im Elternhaus spielt eine Rolle. Zum Beispiel das Durchsetzen von Zeitrahmen, wer was wie und wie lange darf.
Und flugs gibt es in unserer Vorzeigebildungsmetropole Berlin (da gab es vor einiger Zeit, erinnert sich noch einer?, ganz mutige und ehrliche Lehrer, die den Unterricht an ihrer Bildungsanstalt für bankrott erklärten, was ja zum Gesamtzustand dort gut passt) eine Umfrage, die Schüler zur Abstimmung bringen: Wann wollen wir denn heute mal anfangen?
Was mir fehlt, das ist die moderne Binnendifferenzierung: unterschiedliche Anfangszeiten an den verschiedenen Wochentagen und vielleicht die Frage nach einer 4-Tage-Woche.
Dieses Thema sollte unbedingt auf dem „Deutschen Trendtag“ (doch, den gibt es wirklich, ich hoffe auch bald als zu behandelndes Thema in den Schulen) mit dem Thema: „Sozialer Reichtum“ vertieft werden.
Das negative Abstimmungsergebnis der Schüler hat mich nicht so richtig überrascht. So frage ich heute Morgen zwei Schüler, die erst zu 3. Stunde Unterricht haben, warum sie schon um kurz nach acht hier sind.
„Och, Herr Sienknecht“, sagt der eine, wo die Eltern, den Bankern sei gedankt, seit einigen Monaten im Hause sind, „ich halte es da nicht mehr aus, nur Streit und Stress!“ „Und mir“, sagt sein Kumpel, ab 6 Uhr allein erziehend, „ist ganz einfach total langweilig!“
(Vor ein paar Jahren gab es Umfrageergebnisse zum Thema: Notwendigkeit von kleinen Trinkpausen im Unterricht. Sofort stürzten sich einige Fortschrittliche auf diese Resultate, mit der Bilanz, dass bei uns es teilweise erlaubt ist, oder nur während der Arbeiten - oder nicht erlaubt ist, wie bei mir. Wir reden hier von 45 Minuten, die man sich so vorstellen muss, dass jeder dann ein Getränk zum Mund führt, wann es ihm beliebt. Wir schauen uns auch die Wirkung dieser Neuerung an: Sowieso schon stark übergewichtige Kinder lutschen an 2 Liter Eisteetüten o.ä., die dann ja auch irgendwo gelagert werden müssen. Manchmal ergießt sich dieses Zuckerwasser auf den Boden, manchmal wirft einer aus Wut über das Verbot das Gerät gegen die Wand wie selbst gerade erlebt, dann läuft es im Rucksack über Hefte und Bücher.
Hach, Leute, isses nich schön. So haben wir unseren Heranwachsenden die Nuckelflasche wieder anerzogen. Wisst ihr noch, wie sich das anhört, wenn man einem Säugling dieses Spielzeug wegnimmt? Und das Tollste: Viele Bücher und Mappen werden lieber in der Schule gelassen, weil sie sonst morgens einfach zu schwer sind! Nur Mutters Schulbrot fehlt schon seit Jahren. Aber dafür gibt es ja nen Schulkiosk oder die Cafeteria.)
Umfrage 2: Einführung einer neuen Schulform
Elternbefragung zur Einführung einer Integrierten Gesamtschule hier im Landkreis. Wie immer vorher die häufig ideologischen Scharmützel mit der Präsentation von guten oder schlechten Ergebnissen (Wie heißt es doch im Volksmund: Jede Statistik ist so gut wie ihre Fälschung – oder so ähnlich!). Von 1946 Fragebögen kommen zwar nur 863 zurück, also gute 45 Prozent, aber die glühende Redakteurin spricht von einem „eindeutigen Votum“, immerhin befürworten 70 Prozent der Abstimmenden die IGS. Donnerwetter, 2000 Menschen betrifft es, 600 sagen JA (rund und simpel gerechnet) und schon werden Millionen Euro bewegt für ein neues Experiment. So sehen also mittlerweile bei uns überwältigende Mehrheiten aus!
Es entspricht ja den Regeln der Demokratie, wer nicht mit abstimmt, hat selbst schuld.
Aber diese unterdurchschnittliche Wahlbeteiligung ist doch nur der entlarvende Ausdruck für den Zustand, dass die meisten Eltern diesen Trickspiegel der Kultusministerien längst durchschaut haben. Sie haben diesen überdimensionalen Kramladen Bildung satt, sind müde, sich jedes Jahr erneut mit neuen Projekten und Begriffen zu befassen: Primarschule oder Stadtteilschule oder Regionalschule oder volle Halbtagsschule oder halbe Ganztagsschule oder (wie es heute tatsächlich in der Zeitung steht) Gesamtschule light! Ich fass es nicht: Schule wie Cola light oder Lätta light.
Ich glaube, es geht gar nicht mehr um die Kinder. Denn gerade sie lechzen nach Kontinuität, Verlässlichkeit, Fairness und Ehrlichkeit, brauchen Ruhe und ein Zuhören in dieser irren Zeit, in der sie auch noch und immer häufiger als Versuchskaninchen herumhampeln dürfen.
Vor fast zwanzig Jahren hatten wir hier dieses Thema IGS schon einmal. Meine Kinder waren noch schulpflichtig und Teile der Lehrerschaft, die gegen dieses Modell waren, schoben mich als einfachen Kuddel Hauptschullehrer auf das Podium der Theaterbühne. Da saß ich nun u.a. neben dem aus Hannover ranchauffierten Ministerialdirektor, der uns in der Vorbesprechung schöne Grüße vom Ministerpräsidenten Gerhard Schröder ausrichten ließ, in der Hoffnung auf Erfolg. Und als er sich so ziemlich vorgeführt fühlte, ich erhielt Beifall für meine sozusagen alltagsgetränkten Praxisbeiträge und er dröhnte nur etwas von aktuellen Umfrageergebnissen(!) aus Schüler – und Elternbefragungen, da nahm er sich mein Namensschild, nickte und sagte so nebenbei leise: „Ich werde mir die Lehrer ganz genau merken, die hier aktiv gegen die Gesamtschule sind!“ Wie nett! Hat nichts genutzt, die Elternabstimmung war negativ, keine IGS. Aber es waren über 600 Zuhörer anwesend, heute schwankt die Zahl zwischen 30-150.
Umfrage 3: Altern in Deutschland
Eine Studie „Altern in Deutschland“, erarbeitet von Sozialhistorikern, wird dem Bundespräsidenten und nicht der Bundeskanzlerin vorgelegt, weil er mit seinen Reden Einfluss auf die Öffentlichkeit ausübt. Und es geht darum, das Umdenken in der Gesellschaft zu befördern, das Kappen der Schere im Kopf. Wer so begründet seine Studie vorstellt, der glaubt noch an den Weihnachtsmann. Na ja, einige ordentliche Gedanken enthält die Studie ja doch wie zum Aufbrechen des Dreiphasenmodells „Bildung-Arbeit-Ruhestand“.
Aber dann frage ich mich doch: Wer bitte ist befragt worden, wenn so etwas dabei herauskommt?
„Wir brauchen neue Flexibilitäten. Wir müssen Tätigkeitswechsel möglich machen. Auch solche, die ...vielleicht sogar zu einer Lohnreduzierung führen.“
Dann gibt es noch als Vorbild die japanische Arbeitskultur (sehe die Massen in den überfüllten Zügen vor mir und die Pendler in ihren muckeligen Stadtcontainern, wunderbar) und als Krönung die Aussage: „Die meisten leiden unter einem frühen Ruhestand.“ (fett gedruckte Überschrift)
Ich kenne keinen, der darunter leidet. Umgewöhnungsschwierigkeiten, okay.
Für mich selbst kann ich sagen, dass ich seit dem 16. Lebensjahr arbeite, zwei Berufe habe und alles Erreichte weitestgehend selbst finanziert habe. Jeder, der seit über 40 Jahren arbeitet, ist froh, wenn er dieser Mühle entfleuchen (Ausnahmen gibt es natürlich) kann und vielleicht noch seine paar Jährchen hat. Die mehr als wohlverdient sind! Ich finde es eine Anmaßung und noch viel schlimmer, es ist eine grenzenlose Respektlosigkeit vor der Lebensleistung jedes Menschen, der hier seine Arbeit ordentlich und regelmäßig gemacht hat und den man immer noch länger arbeiten lassen will. Sehe dann auch meinen über alles geliebten Schwiegervater vor mir, ein Heimatvertriebener aus Pommern, der zweimal in seinem Leben als Maurer sein Haus Stein für Stein baute. Und vorher aber abends auch noch die eine oder andere Nebentätigkeit erledigen musste, um die Familie durchzubringen. Dann zehn Jahre lang während seiner ersten Rentenjahre seine geliebte Mutter im Hause pflegte. Es verblieben ihm noch 5 Jahre, davon die letzten drei mit seiner an Gehirnblutung erkrankten Frau, Pflegestufe III. Ein erfülltes Leben, mit und in allen Facetten.
Die statistische Lebenserwartung bei Männern beträgt 77 Jahre. In der Schule hole ich zu diesem Thema immer den 1m-Zollstock hervor, klappe ihn auf und bei 77 cm mit Tesakrepp setzen wir eine Markierung.
Zeige dann auf 59 (mein Alter) und auf den Teil, der hinter mir liegt und auf das ganz kurze Stück vor mir. Da werden einige Augen schon groß. Und dann lasse ich noch jemanden bei 67 cm abkleben. „So lange müsst ihr arbeiten!“ Fassungsloses Kopfschütteln und manchmal die Bemerkung: „Dann doch lieber Hartz V oder wie das heißt!“
Bin gespannt auf die morgigen neuen Umfragergebnisse! Zu welchem Thema auch immer!
Es hilft dir nicht weiter, immer friedlich und still zu sein, den Büßer zu geben, den Kopf zu senken und mit nachdenklich verkniffenem Mund umherzulaufen.
Im Land der Umfragegläubigkeit
Dienstag, 19. Mai 2009